Judas Ischarioth
Beinamen oder Zusätze zum Namen waren in der Zeit der Entstehung der biblischen Texte recht verbreitet. Da es noch keine Nachnamen gab, und etliche Vornamen genau wie heute häufig vergeben wurden, waren diese zur Unterscheidung der Personen nützlich. Sie nahmen dabei entweder Bezug auf den Vater (z.B. Johannes, Sohn des Zebedäus) oder den Ort der Herkunft (wie bei Simon Kananäus). Den bekanntesten aller Beinamen trägt Judas Ischarioth. Im lukanischen Schrifttum ist er hilfreich zur Unterscheidung von einem zweiten Jünger mit Namen Judas, dem Sohn des Jakobus, der nur in der lukanischen Aufzählung vorkommt, im Markus- und Matthäusevangelium allerdings wird er dazu nicht benötigt, da es dort nur den einen Judas gibt. Auch auf unseren Emporenbildern haben wir nur diesen bekannten Judas Ischarioth. Über die Herkunft und Bedeutung dieses Beinamens gibt es verschiedene Theorien. Die wahrscheinlichste ist, dass der Name in Beziehung steht zu seiner Herkunft aus dem Ort Kerioth im südlichen Judäa. Eine andere Deutung führt das Wort Ischarioth zurück auf das griechische „sikarios“, was „Meuchelmörder, Bandit“ bedeutet. Dies würde einen Bezug zu der späteren Geschichte des Judas herstellen. Daher muss es als weniger wahrscheinlich angesehen werden, denn zum einen trug ja schon der Vater des Judas den Zusatz zum Namen, zum anderen wäre der Beiname dann eher nachträgliche Wertung und Interpretation. So bleibt es wahrscheinlich, dass Judas aus dem Süden des Landes, aus Judäa stammt.
Die Verbindung seines Namens zu diesem Landstrich ist ja ganz unmittelbar und bedeutungsvoll. Der Süden des Landes, unter den Römern Provinz Judäa genannt, trug vormals den Namen Juda nach einem der zwölf Söhne des Patriarchen Jakob aus dem Alten Testament. Jakobs zwölf Söhne, als deren Restitution später die zwölf Apostel galten, nahmen dem biblischen Bericht vor allem im Josua- und Richterbuch zufolge nach der Flucht aus Ägypten, dem Wüstenzug und der Landnahme im vormals schon unter Abraham bewohnten Israel, das ganze Land in Besitz und teilten es in zwölf Herrschaftsbereiche auf. Dem zweitältesten Sohn Juda fiel dabei der Süden des Landes zu. Dieses Südland blieb am längsten selbständig. Nach der Reichsteilung in einen Nordstaat, der die Ländereien der anderen elf Stämme umfasste, und einen Südstaat, der nur den Bereich Judas ausmachte, und dem Untergang des Nordreiches nach der Eroberung durch die Assyrer 722 v. Chr. blieb der Südstaat Juda noch Königreich bis zur Eroberung durch die Babylonier um 586 v. Chr. Juda war also lange Zeit identisch mit dem, was vom alten Israel noch übrig geblieben war. Der Name wurde dann von den Römern zur Bezeichnung ihrer Provinz benutzt und gab schließlich dem ganzen Volk in der Zerstreuung und seiner Religion den Namen. Die Juden tragen Judas Namen. Und es gab natürlich der antijudaistischen Auslegung des Alten und Neuen Testamentes Nahrung, dass nun ausgerechnet der Jünger, der diesen traditionsreichen Namen trug, zum „Verräter“ an Jesus wurde. Der Weg war nicht weit von dieser Tatsache zur Behauptung, nicht nur Judas in Person, sondern „die Juden“ seien Schuld am Tod Jesu.
Judas Ischarioth kam also schon mit einer erheblichen historischen Hypothek auf die Welt. Dabei ist er durchaus nicht der einzige, der mit diesem traditionsbeladenen Namen leben musste. Für die Tatsache, dass viele Menschen denselben Namen trugen, ist er ein besonders gutes Beispiel. Der Name Juda war sehr beliebt, war er doch der eines der berühmten Patriarchensöhne und des Stammvaters des jüdischen Stamm- und Kernlandes. So begegnen uns in den biblischen Quellen allein acht Männer mit Namen Judas. Der erste ist natürlich der schon erwähnte Jakobsohn aus dem Alten Testament, über dessen Landzuteilung wir in Josua 15,20 ff. erfahren, der Namenspatron des gesamten Judentums. Ein anderer Judas steht im Stammbaum Jesu in Lukas 3,30, von dem wir allerdings nichts wissen, außer dass sein Vater Josef hieß und er einen Sohn Namens Simeon hatte und etliche Generationen vor Jesus gelebt haben muss. Ein dritter Judas ist uns überliefert, der den Beinamen Galiläus trug und ein Widerstandskämpfer gegen die Römer unter dem Statthalter Quirinius gewesen sein soll, also um die Zeit der Geburt Jesu herum.
Die Apostelgeschichte kennt noch einen Judas aus Damaskus, der zeitweise Paulus beherbergt haben soll (Apostelgeschichte 9,11). Außerdem gibt es einen Judas Barsabas, der nach Apostelgeschichte 15,22+27+32 eine leitende Stellung in der Jerusalemer Urgemeinde innegehabt haben muss, und der auserwählt wurde, mit Paulus, Barnabas und Silas auf Missionsreise nach Antiochien zu gehen. Schließlich hieß auch einer der Brüder Jesu Judas. Das wissen wir aus Matthäus 13,55, wo die Brüder Jesu mit Namen genannt sind und die Schwestern zumindest erwähnt werden.
Und endlich gibt es jenen zweiten Judas im Zwölferkreis, der allerdings nur im lukanischen Schrifttum vorkommt in den Aufzählungen des Lukasevangeliums in Lukas 6,13-16 und Apostelgeschichte 1,13. Judas Ischarioth also hat viele Namensvettern, er aber ist der bekannteste Träger dieses Namens geworden durch seinen Verrat. Diese Geschichte wird allerdings von den Evangelisten unterschiedlich überliefert. Zwar berichten alle drei Synoptiker, dass Judas aus Eigeninitiative zu den Hohen Priestern gegangen sei, um mit ihnen ein Abkommen über den Verrat zu schließen.
Das Geld boten diese ihm daraufhin an. Ob es sich bei diesen dreißig Silberlingen tatsächlich um eine nennenswerte Summe gehandelt hat, lässt sich nicht mehr aufhellen, da wir über den Wert der Währung zu wenig wissen. Auf jeden Fall war die Summe nicht so groß, dass von ihr die Versuchung für die Tat ausgegangen sein konnte. Judas muss noch ein anderes Motiv gehabt haben. Dass Jesus von diesem geplanten Verrat wusste, berichten ebenfalls alle drei Evangelien, allerdings wird nur im Matthäusevangelium die Identität der Person offengelegt. Nach Matthäus 26,25 fragt Judas: Bin ich‘s? Und Jesus antwortet: Du sagst es. Im Markusevangelium fragen sich alle offenbar ängstlich, ob sie gemeint sein könnten (Markus 14,18-21), und im Lukasevangelium heißt es nur „die Hand es Verräters ist mit mir über dem Tisch“ (Lukas 22,47+48). Im Johannesevangelium wird der Verrat nur in einem Satz erwähnt; wir erfahren keine Einzelheiten.
Der tatsächliche Vorgang wird dann von allen ziemlich ähnlich berichtet. Als Jesus mit seinen Jüngern im Garten Gethsemane war um zu beten, kam Judas mit einer Schar bewaffneter Männer und gab als Erkennungszeichen Jesus einen Kuss. Dieser Judaskuss ist zum geflügelten Wort geworden. Jesus kommentiert: Verrätst du des Menschen Sohn durch einen Kuss? Die zärtliche Handlung größter Intimität wird pervertiert zum Zeichen des Verrates.
Über das Motiv des Judas, Jesus zu verraten und ihn gerade auf diese Weise zu verraten, ist viel spekuliert worden. Die Bemerkung im Lukasevangelium, der Satan sei in Judas gefahren (Lukas 22,1-6) hilft nicht viel weiter, sie steht eher unter dem Verdacht einer antijudaistischen Färbung. Nichts lässt vorher darauf schließen, dass Judas nicht in ebensolcher Loyalität zu Jesus steht wie seine anderen Freunde. Deshalb haben viele Ausleger die Theorie vertreten, dass Judas nicht aus Hass diesen Verrat beging sondern aus Enttäuschung. Wie viele andere habe er von Jesus die Befreiung von der Römerherrschaft und Besatzung erwartet, sei vielleicht sogar wie Simon Zelotes ein Mitglieder der Untergrundbewegung der Zeloten gewesen. Als er Jesus von seinem Tod reden hörte, habe er ihn einfach zum Handeln zwingen wollen. Wenn er ihn an die Römer ausliefern würde, dann bliebe ihm doch nichts anderes übrig, als endlich seine Macht zu zeigen und gegen die Römer zu kämpfen. Judas habe nicht erwartet, dass Jesus das mit der Gewaltfreiheit tatsächlich ernst gemeint hätte und sich kampflos ergeben und töten lassen würde. Zwar gibt es in den biblischen Texten keinen Beleg für die Nähe des Judas zu den Zeloten, auch nicht dafür, dass er mit Simon Zelotes in besonderer Weise befreundet gewesen sein könnte. Aber die Umstände, die vom Tod des Judas berichtet werden, würden durchaus zu dieser Theorie passen. Diese allerdings kennen wir nur aus dem Matthäusevangelium. Matthäus 27,3 ff. berichtet, dass Judas, als er sah, dass Jesus zum Tode verurteilt wurde und nichts unternahm, um sich zu retten und zu wehren oder gar gegen die Römer zu kämpfen, das Geld zu den Hohen Priestern zurückbrachte und seine Tat bereute. Diese allerdings wollten nun nichts mehr damit zu tun haben. Da warf Judas das Geld in den Tempel, ging fort und erhängte sich. Die Hohen Priester aber trauten sich nicht, das Geld zurückzunehmen, weil Blut daran klebte. Sie kauften dafür einen Acker, auf dem fortan die Fremden beerdigt werden sollten. Die Erklärung „daher heißt dieser Acker Blutacker bis auf den heutigen Tag“ lässt allerdings eher auf eine sogenannte Ätiologie schließen. Das heißt, die Tatsache, dass es einen Acker mit diesem Namen gab, soll nachträglich durch eine Geschichte erklärt werden, die anscheinend plausibel macht, wie der Acker zu diesem Namen gekommen ist.
Die zweite Nachricht, die wir vom Tod des Judas haben, stammt aus der Apostelgeschichte. In Apostelgeschichte 1,16-20 legt der Verfasser Petrus die Worte in den Mund. Danach soll Judas selbst den Acker von dem Geld erworben haben, sei dann aber „vornüber gestürzt, so dass alle seine Eingeweide hervorquollen.“ Hier ist das Ende also kein Selbstmord, sondern ein Unfall, ein sehr schauriger Unglücksfall, der Petrus wohl als „Strafe Gottes“ erscheint. Er sieht die Aussage aus Psalm 69, 26 („Ihre Wohnstatt soll verwüstet werden, und niemand wohne in ihren Zelten.“) als Voraussage des Endes des Judas an und begründet mit Psalm 109,8 („Seiner Tage sollen wenige werden, und sein Amt soll ein andrer empfangen.“), dass nun ein anderer an Stelle des Judas zum zwölften Apostel gewählt werden kann und muss. Den Ackerkauf findet er vorausgesagt in Jeremia 31,9. Diese Argumentation arbeitet bereits mit dem Verheißungs- Erfüllungs-Muster, das behauptet, alles, was nun mit und um Jesus geschehe, sei im Alten Testament bereits vorausgesagt und angekündigt. Alttestamentliche Zitate werden herausgezogen, um diese Theorie zu stützen und zu „beweisen“. Auch Jesus selbst legen die Verfasser der neutestamentlichen Schriften solche Argumente in den Mund. Alles musste so kommen, wie es nun kam. Und deshalb musste also auch einer Jesus verraten.
Letztlich lässt sich die Frage nach den Motiven des Judas aber nicht beantworten. Dass er und auch andere Anhänger einer jüdischen Befreiungsbewegung nahe standen, von denen es übrigens viele gab, ist sicher möglich. Da diese sich in der Frage, ob die Befreiung mit oder ohne Gewalt, auch militärische Waffengewalt, geschehen könne und solle, nicht einig waren, würde dies gut erklären, warum die Auseinandersetzung über die Frage nach der Gewaltfreiheit in neutestamentlichen Texten eine große Rolle spielt. Wenn die Theorie von der Mitgliedschaft des Judas in einer solchen Organisation zutrifft, dann hätten sich Jesus und Judas sozusagen über die Gewaltfrage auseinanderdividiert.
Die Identifizierung dieser Figur an unserer Emporenbrüstung, die möglicherweise Judas sein konnte, ist nicht ganz sicher. Üblicherweise trägt Judas auf Abbildungen als Attribut einen Geldbeutel bei sich. Dies ist auf unserem Bild nicht der Fall. Es ist vermutet worden, dass es sich deshalb um Judas handele, weil er sich abwendet. Aber das ist ein eher schwaches Argument. Erstens wäre das eine Haltung und kein Attribut. Zweitens gibt es auch andere Figuren unter den Zwölfen, die ihren Blick nicht direkt auf Christus oder die Kreuzigungsszene gerichtet haben. Es wäre durchaus ungewöhnlich, wenn der Künstler Judas im Kreis der Zwölf belassen hätte, vor allem dann, wenn es sich beim letzten der Zwölf in der Kassette neben Luther tatsächlich um Matthias handelt, was allerdings gleichfalls nicht ganz sicher ist. Matthias nämlich wurde erst nach Tod und Auferstehung Jesu nachgewählt anstelle des inzwischen verstorbenen Judas. Wenn der Künstler beide im Jüngerkreis belassen hätte, wäre das eine sehr ungewöhnliche Interpretation.
Gemeindebrief - Frühjahr 2010